April 2021

4. April 2021 - 14:16

Der japanische Fotograf Yamamoto Masao gruppiert seine Arbeiten in Serien - A Box of Ku, Nakazora, Kawa=Flow, Shizuka=Cleanse, Small Things in Silence, Tori (Vogel) -, die aber keine Projekte mit klaren Anfängen und Enden darstellen. Jede Fotografie ist als (flexibler, variabler) Teil eines größeren Zusammenhangs, aber auch als isolierter Ausschnitt gültig.

Die Fotos der einzelnen Serien bilden keine chronologische Geschichte, sondern die Erzählung wird durch die Art der Präsentation vom Künstler erzeugt. Dabei können die Installationen und Geschichten immer andere sein, je nachdem wo und in welchem Kontext Yamamoto ausstellt. Yamamoto arrangiert seine kleinen ungerahmten Fotografien an den Ausstellungswänden, wählt eine intuitiv als Ausgangspunkt aus und entwickelt daraus eine Geschichte in Bildern. Aus der Ferne betrachtet bilden diese Arrangements einen Fluss, einen Flow um den Ausstellungsraum.

 

I construct a story by hanging several small photos. I don’t do it chronologically. Sometimes I start with the end, sometimes with the middle, I never know where I will start. I attach one, then another, and then a third. Even I have no idea of the story it tells before I start hanging. It’s only in the theoretic hanging that the sense appears to me. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Nakazora Installationsansicht, 2002 © Craig Krull Gallery

Installationsansicht, 2006 © Mizuma Art Gallery

 

Die Möglichkeiten zu ordnen und zu arrangieren sind grenzenlos, da jede leichte Verschiebung die Poesie dieser "visuellen Haikus" ändert. Doch nicht nur Yamamoto kann unendlich viele Kombinationen finden, auch der Ausstellungsbesucher, der die Fotoinstallation abschreitet, folgt seinen eigenen Assoziationen. Tausende individuelle Erzählungen entstehen auf diese Weise.

Jede Serie hat also ihre Installationen, ihre Publikationen und ihren sich entwickelnden Katalog mit nummerierten Drucken. Der Künstler gibt seinen Fotografien selten Titel. Die meisten sind bloß zu Identifikationszwecken nummeriert.

 

A Box of Ku #0214, 1993 © Masao Yamamoto

 

Jeder der Silbergelatineabzüge der Serien "A Box of Ku" und "Nakazora" ist etwas Einzigartiges und Kostbares in Bezug auf seine Größe, individuelle Verarbeitung, Tonung und Abnutzung:

Yamamoto gibt seinen Abzügen ein altes Aussehen, verleiht ihnen künstliche Patina, indem er sie mit Tee beträufelt, sie mit seinen Tränen verschmiert, sie zart koloriert oder auf ihnen malt. Er trägt sie mit sich herum, reibt sie in seinen Händen und schiebt sie in seine Taschen, bis sie zerknittert, eselsohrig, zerkratzt, zerrissen und abgenutzt aussehen. All diese manuellen Prozesse tragen nicht nur dazu bei nuancierte fotografische Objekte zu erschaffen, sondern auch die Grenze zwischen Malerei und Fotografie auf- und die Fotografie aus dem Kontext der Serienproduktion herauszulösen. Das Sichtbar-Machen seiner individuellen Handschrift durch den vermeintlichen Altersprozess erleichtert die Auseinandersetzung mit der Fotografie als taktilem Medium und die Rahmenlosigkeit verringert ebenso die räumliche Distanz und erhöht den emotionalen Zugang für die Betrachterin.

Doch noch etwas anderes will Masao Yamamoto mit dem Alterungsprozess erreichen: Wir sollen die Beziehungen zwischen Fotografie und Erinnerung neu untersuchen.

 

As you can see, my photos are small and seem old. In fact, I work so that they’re like that. I could wait 30 years before using them, but that’s impossible. So, I must age them. I take them out with me on walks, I rub them with my hands, this is what gives me my desired expression. This is called the process of forgetting or the production of memory. Because in old photos the memories are completely manipulated and it’s this that interests me and this is the reason that I do this work. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

Ich bin mir nicht sicher, was Yamamoto meint: Prozess des Vergessens oder die Produktion von Erinnerung? Wir alle vergessen so viel! Es macht mich sprachlos traurig, wie viel ich von meinen verstorbenen Hunden schon vergessen habe. Konserviert ein Foto die Erinnerung, die ich habe oder ersetzt es die Erinnerung, die ich nicht mehr habe? Erinnern wir uns womöglich nicht "richtig" und produzieren ständig selbst-manipulierte Erinnerungen? Konstruieren wir die Erinnerung als immer neu zu erzählende Geschichte, da wir uns nicht erinnern, sondern nur an die Erinnerung erinnern…?

 

A Box of Ku #0719 © Masao Yamamoto

 

Die meisten Serien erstrecken sich über mehrere Jahre, Etappen entlang eines Werkflusses, der durch das Leben mäandert.

"A Box of Ku" betont Intimität, Zeit und Erinnerung. Manchmal hängt Yamamoto die Abzüge nicht assemblagearitg an die Wände, sondern versammelt sie in einer Kiste und fordert die Besucher zum Stöbern auf. Wie eine Erinnerung können die kleinen Silbergelatineabzüge in der Hand oder zwischen den Fingerspitzen gehalten, an die Augen und Nase geführt werden, um besser berührt, betrachtet und gerochen zu werden.

 

Nakazora #1275 © Masoa Yamamoto
Der Makake, ein Altweltaffe, aus der Nakazora-Serie ist für Sofie S.

 

Die Makaken suchen im Winter in kühleren Regionen gerne heiße Quellen auf, die im vulkanreichen Japan recht häufig sind. Um ihre Körpertemperatur zu regulieren, halten sie sich manchmal stundenlang in diesen warmen Gewässern auf. Das Foto zeigt einen dieser Schnee-Affen, der sich, in Dreiviertelansicht und bis zur Brust im Wasser weilend, darin spiegelt. Mit geschlossenen Augen, anmutig, würdevoll, gelassen, befindet er sich im Zustand des Nakazora:

 

(...) in water and in air, in the steamy warmth of the hot spring and in the wintry mountain cold, between sleep and wakefulness, between the gravity of her body and the ethereal shimmer of her reflection (Sara Crowe zit.n.photocurios)

 

Nakazora beschreibt verschiedene Zustände des Dazwischen, der Unentschlossenheit. der Leere, des Schwebens, eine Grenzzone zwischen Himmel und Erde, "wo die Vögel fliegen" (vgl. photocurious) und die Makaken baden.

 

Nakazora #811 © Masao Yamamoto

 

"Kawa=Flow" - der Titel der Serie bezieht sich auf die Reise von der Gegenwart in die Zukunft, von einer konkreten Situation zu dem Unbekannten, das vor uns liegt - bricht mit dem Ausstellungsformat der kleinen ungerahmten Fotos und setzt einzeln montierte und gerahmte an seine Stelle. Die ungealterten Fotografien dieser Serie werden in der regelmäßigen, konventionellen Art und Weise von Galerie-Fotoausstellungen gehängt. Sie sind auch größer als die handtellergroßen Abzüge früherer Projekte, und während die charakteristischen Elemente seines Stils präsent bleiben - Motive aus der Natur, starke Kontraste, monochromatische Feinheiten und geometrische Präzision -, wird die Auseinandersetzung zwischen Bewegung und Stillstand und damit die Erfahrung von Zeit in jedem Bild neu behandelt.

"Kawa-Flow" wird bestimmt von der Idee der Fotografie als Haiku - jedes kleine Bild eine exquisite Aufnahme eines Moments, jeder Moment ein winziger Teil des endlosen Flusses des Lebens, unserer unaufhörlichen Bewegung von einem Jetzt zu einem Jetzt zu einem Jetzt. (vgl. photocurios). Die Bilder verehren eine gleichzeitige und ewige Gegenwart.

 

KAWA=FLOW  #1613, 2012 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Fotografie ist durchdrungen sowohl von Ästhetik als auch von Sensibilität. Beides hat ihren Ursprung im Zen-Buddhismus, Shintoismus, Daoismus und der japanischen künstlerischen Tradition. Sie nimmt auf auf spirituelle und ästhetische Konzepte wie Leere, Wabi-Sabi, Haiku, Yûgen Bezug:

An die ästhetische Tradition des Wabi-Sabi, in der Objekte für ihre Unvollkommenheit, Verwitterung und Authentizität geschätzt werden, erinnert die beschleunigte Alterung der Fotografien. An japanische Haiku, kurze Gedichte, erinnern die Fotografien, da sie ihre Kraft ebenso aus einfachen, direkten, alltäglichen Bildern aus der Natur beziehen. Das traditionelle ästhetische Konzept des Yûgen, mit dunkel, tief und mysteriös nur unzulänglich übersetzt, schätzt das Angedeutete und Verborgene höher als das offen zu Tage Liegende und klar Exponierte. Yûgen ist damit vornehmlich eine Stimmung, die sich für jene Andeutungen eines Transzendenten offen hält.

 

#4(dog on river), 1993 © Masao Yamamoto

 

Yamamoto zeigt eine zarte, flüchtige, harmonische Welt, die für jeden sichtbar ist, aber nicht von jedem wahrgenommen wird. Die meisten seiner Motive entnimmt er der Natur - Landschaften, Vögel, Bäume, Blüten, Insekten, Tiere, Blumen, Blätter, Felsen, Gewässer, Wolken, Vogelnester. Er ist ein wandernder Fotograf, der absichtslos - ohne Vorstellung und Ziel -, aber mit offenem Geist beobachtet und fotografiert. Er ist ein Entdeckender und Staunender.

Ich habe lange nach einem Wort gesucht, das seine Fotos bzw. das sie auslösende Gefühl am besten ausdrückt: Sie werden als spirituell, mystisch, harmonisch, raffiniert, subtil, kraftvoll beschrieben. Doch das passende Wort ist beruhigend, Frieden und Aussöhnung erzeugend. Yamamoto selbst hat es vorgeschlagen:

 

For me a good photo is one that soothes. Makes us feel kind, gentle. A photo that gives us courage, that reminds us of good memories, that makes people happy. (Yamamoto Masao zit.n. LensCulture)

 

© Masao Yamamoto

 

Masao Yamamoto wurde 1957 in der kleinen, halbländlichen Stadt Gamagori in der japanischen Präfektur Aichi geboren. Er studierte Bildende Kunst und Ölmalerei bei dem Künstler Goro Saito, bevor er sich 1980, in seinen 20ern, der Fotografie zuwandte, dennoch bleibt sein malerischer Hintergrund in seinen Werken offensichtlich. Er verwendet einen schwarz-weißen 35-mm-Film. Davon produziert er in seiner eigenen Dunkelkammer Silbergelatine-Abzüge, von denen er 20-40 Versionen ausgewählter Bilder anfertigt.

Wie meditative Objekte setzten sich die minimalen Motive mit ihrem oftmals transzendenten Ton der aktuellen Bilderflut des digitalen Zeitalters und der formalen Monumentalität und Farbigkeit der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie entgegen.

 

Nakazora #1051, 2002 © Masao Yamamoto

 

Yamamotos Abzüge nehmen die Aura alter Familienschnappschüsse an, die Jahrzehnte in Schubladen, Alben und Dachböden verbracht haben und durch ihr altes Aussehen zum Nachdenken anregen - über Erinnerung, den Lauf der Zeit, den Fluss des Lebens.

Vielleicht werden die zwei Fotos meiner verstorbenen Hunde Lucy und Rocco, die ich in meiner Geldbörse bei mir trage, einmal so alt aussehen wie Yamamotos Abzüge. Dreißig, vierzig Jahre aufbewahrt - dog-eared - und nicht künstlich, sondern an der Hunde statt mit mir gealtert.

 

Quellen: LensCulture, Jackson Fine Art, Yancey Richardson, Galerie Stefan Vogdt, Atlas Gallery, Medium u.a.

alle Fotos mit Hunden © Masao Yamamoto

 

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