Wie erstaunt war ich beim Besuch der Ausstellung "Wintermärchen" im Wiener Kunsthistorischen Museum, als mein Blick in einem der Kabinette, in dem die - angeblich - weniger bedeutenden Arbeiten hängen, auf den Wolf mit Heiligenschein fiel: So eine Darstellung hatte ich noch nie gesehen. Das untere Bild zeigt das ganze, 1877 entstandene Gemälde, das nach Ausstellungsende wieder im französischen Lilie zu sehen sein wird.
Der Text des Gastkurators Roland de Leeuw (Seite 349) im Ausstellungskatalog gibt nähere Auskunft über dieses stimmungsvolle Genrebild. So habe sich Merson vor allem mit religiösen Themen beschäftigt, die in der Zeit des französischen Realismus nicht gerade en vogue waren. Er zeigte seinen "Loup d'Agubbio" beim Pariser Salon von 1878, wo das wenig erhabene Thema bemängelt wurde und ein Kritiker sich darüber erstaunt zeigte, dass Merson den zahmen Wolf mit Heiligenschein versehen hatte. Nun, der Kritiker hatte, ebenso wie ich, keine Ahnung vom Hintergrund der Geschichte. Sie ist den "Fioretti" des Franz von Assisi entnommen: Ein hungriger Wolf sucht die Stadt Agubbio heim und verschlingt seine Angreifer. Franz von Assisi zähmte den Wolf, der dann zwei Jahre in dem italienischen Städtchen weiterlebte und von den Bewohnern versorgt und von den Hunden ignoriert wurde.
Eine frühere, sommerlichere Bearbeitung des Stoffes nahm Il Sassetta beim Flügelaltar des heiligen Franziskus von 1437-1444 vor, den wesentlichen Ausschnitt sehen Sie unten. Der Wolf hat noch keinen Heiligenschein, gibt aber schon Pfote - nachdem er seinen Hunger gestillt hat (siehe Bildmittelgrund).