17. November 2021 - 10:50

Im letzten Blogbeitrag habe ich auf ein flaches Paket unter dem Hochzeitstisch hingewiesen. Inzwischen ist es ausgepackt. Sein Inhalt: Ein druckgraphisches Werk des österreichischen Künstlers Herbert Starek (*1954).

"Je freier die Assoziationen, desto besser", beteuert Herbert Starek über die Rezeption seiner dadaistischen und surrealen Kartographien. Er gibt uns "kühnen Interpreten" damit einen Freibrief zum Finden unserer ganz individuellen Bezugs- und Koordinatensysteme, unserer persönlichen Interpretationen, die auf unseren Erlebnissen, Erfahrungen und unserem Wissen basieren. Vieles in seinem Werk bleibt kryptisch, mysteriös, manches können wir decodieren oder meinen dies jedenfalls.

 

Symphonie Nr. 101 in D-Dur für vier Hunde, 2016 © Herbert Starek
Symphonie Nr. 101 in D-Dur für vier Hunde, 2016 aus der Serie "Schleierhafte Karten"
 

Die großflächigen Karten erwecken zunächst den Eindruck korrekter topografischer Abbildungen. Auch bei "Symphonie Nr. 101 in D-Dur für vier Hunde" aus der Serie "Schleierhafte Karten" kann der suchende Blick wie bei klassischen Landkarten Wälder, Dörfer, Gebirge sowie Himmelsrichtungen ausmachen. Doch Vorsicht: Norden ist im Süden und umgekehrt. Diese Karte gibt wohl keine Orientierung. Doch darum geht es dem Künstler: Karten als untaugliche Mittel zu entlarven, uns in der Welt zu orientieren. Nur vordergründig suggerieren sie Ordnung und Hilfe beim Zurechtfinden in einer komplexen unwirtlichen Welt. Denn: Die Karten sind fiktiv.

Ich versuche mich in Kühnheit und interpretatorischer Verwegenheit. Google ist als schnelles Werkzeug zur Hand, um den einzelnen Bild- und Textelementen nachzuspüren: Sternenkarte wird verworfen und das Werk als Seekarte identifiziert. Geben die kleinen Pfeile Strömungsrichtungen des Wassers vor? Ist eine Partitur in die Karte verwoben und stehen die vier Hunde für die vier Sätze der Symphonie? Ein Hund macht einen Spielbogen, einer bellt, einer heult und einer wacht. Oder interpretieren die Hunde die Inselnamen? Steht der wachsame Dobermann für den - martialischen - Mars?

Tybee ist eine Insel vor der Küste Georgias, unweit von Savannah entfernt. Die meisten Historiker glauben, dass sich der Name "Tybee" von dem Wort der Euchee-Indigenen für Salz ableitet, das eine der vielen natürlichen Ressourcen war, die auf Tybee gefunden wurden. Und findet sich auf Stareks Tybee nicht ein kleines Tipi? Die Mars-Insel liegt vor der Knox-Küste des ostantarktischen Wilkeslands, sie wurde 1956 von einer sowjetischen Antarktisexpedition kartiert. Die Cookinseln sind ein unabhängiger Inselstaat in "freier Assoziierung mit Neuseeland" und eine Inselgruppe im südlichen Pazifik. Die Cookinseln sind der erste Staat, in dem Frauen zur Wahl gingen.

Womit ich bei der insellosen "rückwärts laufenden", also palindromischen Anna wäre …

Doch bringt mich das wirklich weiter? Reicht es nicht das Tintenblau, die Komposition und ästhetische Sensibilität zu bewundern? Die Alterungsspuren zu genießen, die den computergenerierten Karten hinzugefügt wurden und den Arbeiten von unglaublicher drucktechnischer Präzision einen paradoxen Reiz geben und Echtheit vorspiegeln?

 

Symphonie Nr. 101 in D-Dur für vier Hunde (Detail), 2016 © Herbert Starek
Detail aus Symphonie Nr. 101 in D-Dur für vier Hunde
 

In der Gestalt des in Lugano lebenden fiktiven Privatgelehrten Amadeus Cavori entsendet Starek diesen seit 2002 auf zahlreiche Reisen.

 

Acht Hunde, 2019 © Herbert Starek
Acht Hunde, 2019 aus der Serie "Blinde Worte"
 

Vom Künstler weiß ich, dass das Werk "Acht Hunde" der Serie "Blinde Worte" "unter Verwendung eines Fimstills aus dem Film "L'Eclisse" von Michelangelo Antonioni mit der wunderschönen Monica Vitti und dem wunderschönen Alain Delon" entstanden ist.

Zwei einsame ziellose Menschen beginnen im Rom der 60er Jahre eine Beziehung. Doch ihr Gefühl des Verlorenseins ist stärker als die Liebe. Sie verabreden sich, doch keiner von beiden erscheint zum vereinbarten Zeitpunkt. Der Film endet mit einer mehrere Minuten langen Abfolge von Einstellungen, die den menschenleeren Ort ihrer Verabredung zeigen, während die Dunkelheit des Filmtitels (L’eclisse = dt. Finsternis) hereinbricht.

Ohne den Film zu kennen, liegt die Vermutung nahe, dass wir diesen einsamen, menschenleeren Ort betrachten, der nur von Hunden belebt wird. Aber: Wandern ist verboten! Tybee kommt als König vor. Google bringt nur einen Treffer in "Flavii Josephi des Hochberühmten Jüdischen Geschichtsschreibers Historien und Bücher", aber für mich keine weiterführede Erkenntnis. Eine Sackgasse. Spontan  fallen mir einige Filme italienischer Regisseure ein, die Hunde ins Zentrum der Erzählung stellen: Von Vittorio De Sicas "Umberto D" bis zu "Dogman" von Matteo Garrone.

Wieder beschränke ich mich lieber auf die Ästhetik und die Poesie und Stille, die das Werk ausstrahlt, die Hunde scheinen fast zu schweben, einer fast unsichtbar in der Dunkelheit. Herbert Starek kombiniert in seinen penibel und präzise konstruierte Karten Wort und Bild, die uns wiederum zu Gedankenkonstruktionen innerhalb eines Werks, aber auch zwischen den Werken (Tybee bzw. König Tybee!) verführen sollen. Je nachdem, wie wir die Leerstellen zwischen Text und Bild füllen, ergeben sich unzählige neue Konstellationen, je nachdem, ob wir bei unseren Bildassoziationen politische, philosophische oder poetische Verknüpfungen vornehmen.

Quellen: NöART, artbits.

 

alle Bilder © Herbert Starek

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